Samstag, 1. September 2012

Manchmal denke ich, warum ich überhaupt in so eine Krankheit gefallen bin.
Was habe ich nur falsch gemacht? Warum war ich so blind?
Damals dachte ich, ich wäre zu intelligent, um so weit in die Magersucht zu fallen. Ich dachte, ich könnte wieder essen, wenn ich dünn genug wäre.
Dann könnte ich mir alles gönnen, denn schließlich war ich ja dann sehr schlank und hätte kein schlechtes Gewissen mehr.
Aber so war es nicht, nein.
Denn mit jedem Kilo weniger wurde es schwieriger überhaupt etwas zu essen.
Aber habe ich gemerkt, dass ich krank war? Nein.
Habe ich es gemerkt, als ich damals heulend vor meinem nicht mal viertel vollen Teller saß? Nein.
Habe ich es gemerkt, als ich nur zögernd ein Bonbon von einer Freundin annahm und es heimlich wieder hinter ihrem Rücken ausspuckte? Nein.
Habe ich es gemerkt, als ich mein Frühstück mit auf den Schulweg nahm, um es dort wegzuschmeißen, ohne dass meine Eltern es mitkriegten? Nein.
Habe ich es gemerkt, als ich täglich Schwindel- und Schwächeanfälle bekam? Nein.
Und habe ich es gemerkt, als meine Eltern mich angeschrien haben, dass ich bald zu Grunde gehen würde, wenn ich so weiter mache? Nein.
Verdammt, merkt ihr was?
Solche Sätze wie "Ich werde erst wieder essen, wenn ich dünn genug bin!" oder "Wenn ich dünn bin, werde ich nie mehr ein schlechtes Gewissen während des essens haben!" stimmen nicht!
Denn irgendwann, wenn man sich richtig runter gehungert hat, weiß man gar nicht, was dünn ist.
Man hat falsche Vorstellungen von einem "perfekten Körper".
Wenn man nämlich bei seinem Wunschgewicht ist, bei seinem Ziel, wo man anfangs noch dachte, wenn man das erreichen wird, ist Schluss, kann man nicht mehr richtig denken.
Wenn du schon in dieser Spirale drin bist, sind alle anderen dünner als du selbst.
Egal, wie viel du abnimmst, egal wie viel weniger die Waage anzeigen wird, es wird nie genug sein!
Man strebt das nächst niedrige Ziel an.
Immer weniger und weniger.
Und irgendwann, eines tages, wirst du vor Schwäche und Schwindel zusammen klappen, dein Körper wird es nicht mehr aushalten.


Ich stehe in der Küche. Es ist 19 Uhr.
Meine Mutter schreit mich an, ich solle doch endlich etwas essen.
Doch Anna sagt nein. Anna ist Stolz auf mich.
Denn ich bin schon zwei Tage ganz ohne Essen ausgekommen. Habe erfolgreich gefastet.
Ich bin stolz auf mich.
Aber bin ich das wirklich? Oder ist es nur Anna?
Ich verspüre keinen Hunger, ich will nichts essen.
Ich stehe nun hier, schon eine Stunde und vergleiche die Lebensmittel, die hier stehen. Was hat nur die wenigsten Kalorien? So gut wie nichts?
Oder mit wenigstens so vielen, mit denen ich leben kann?
Oder eher, mit denen Anna leben kann.
"Dann iss doch wenigstens einen Apfel!"
Ich verzweifle. Was soll ich nur essen?
"Gar nichts! Du fette Sau! Willst du dein ganzen Erfolg jetzt ruinieren nur weil deine Mutter will, dass du etwas isst? Sie kommt sich doch nur dumm vor, weil sie isst und du nicht. Du zeigst ihr, dass du Wille hast, dass du stark bist und etwas kannst. Lass es. Geh lieber laufen! Danach kannst du dir vielleicht eine Cola light gönnen, aber mehr nicht!"
Lass mich Anna, bitte geh endlich, ich kann nicht mehr.
Aber ich gehorchte ihr, ich gehe in mein Zimmer.
Wie im Rausch laufe ich zu meinem Schrank, hole meine Sportsachen ein zweites Mal heute heraus und ziehe sie an.
Meine Mutter rennt mir hinter her, hat Tränen in den Augen als sie sagt: "Du wirst sterben, wenn du jetzt nichts isst. Du gehst jetzt nicht laufen, bitte! Siehst du das überhaupt noch!? Ich sterbe vor Sorge! Ich kann einfach nicht mehr. Tu es wenigstens mir zu liebe. Geh jetzt nicht."
Aber Anna sagt doch, ich muss gehen.
Also gehe ich.
Doch bevor ich aus dem Haus gehen kann, packt meine Mutter mich, zieht mich in die Küche und schreit, ich soll endlich etwas essen, sonst bringt sie mich jetzt sofort in das Krankenhaus.
Nach einer weiteren Stunde sitze ich nun vor einem halben Apfel.
Er ist in exakt 30 kleine Stückchen geschnitten.
Ich esse eines davon und breche in Tränen aus.
Irgendwie schaffe ich es, die restlichen Äpfelschnitzchen in ein Tempo zu mogeln und sie draußen wegzuschmeißen.
Anna schreit mich an. Ich soll das Apfelschnitzchen abtrainieren.
Also gehe ich laufen.
In der stockdunklen Nacht.
Ich habe Angst.
Aber ich werde angetrieben.
Zu Hause angekommen überfällt mich der Schwindel.
Anna schreit mich an, ich soll keine Schwäche zeigen.
Aber ich kann einfach nicht mehr.
Ich spüre, wie mein Körper auf dem harten Boden aufschlägt.
Ich kann nicht mehr.
Meine Mutter kommt angerannt.
Ich kann nicht mehr.
Sie sucht meinen Puls und schreit geschockt, sie würde ihn nicht finden.
Ich kann nicht mehr.
Später höre ich die Sirene des Krankenwagens.
Ich kann nicht mehr.
Ich werde auf eine Liege gelegt.
Ich kann nicht mehr.
Ich höre den geschockten Sanitäter, der meine schlechten Werte meiner Mutter mitteilt, höre sie darauf hin weinen.
Ich sehe ein Licht, höre das schreckliche Piepsen der Geräte, dann wird alles schwarz.

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